Evangelischer Kirchenkreis Lübbecke

Worte der Besinnung für den 10. Oktober 2020

Pfarrer Eberhard Helling

Das Naheliegende

Immer wieder höre ich, wie Menschen von ihren Entdeckungen hier bei uns in der Region berichten: eine tolle Ausstellung an einem unerwartetem Ort, Musik in der Scheune um die Ecke, eine Krankengymnastin aus unserer Straße, die einen Verletzten wieder so gut zum Laufen verholfen hat, wie man das zuvor nicht erwarten konnte. Mir fällt dann immer wieder das eine ein: "das ist doch im wahrsten Sinne des Wortes: Naheliegend!" Oder - um es mit dem alten Goethe zu sagen: "Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nahe!" In diesem Jahr ist dieser Slogan mit vielen guten Gründen zur Empfehlung für einen Urlaub im eigenen Land geworden.
Dies alles ist aber auch auf einer ganz anderen Ebene wahr: Gott selbst kommt uns Menschen näher als wir es vermuten oder wahrhaben wollen. "Es ist das Wort ganz nahe bei dir - in deinem Mund und in deinem Herzen." (5. Mose 30, 14) So steht es in der Bibel und im Islam gibt es die Einsicht: "Gott ist dir näher als deine Halsschlagader." Wie dieses Wort, das uns so nahe liegen soll, konkret lautet? Jesus hat es in einem Satz zusammengefasst: "Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun - das tut ihnen auch." (Matthäus 7, 12)

Also nicht: wie du mir so ich dir! Dieses Lebensmotto kann zum erbarmungslosen Krieg führen, in Familien, in Nachbarschaften, zwischen Nationen: wer mir auf die rechte Backe schlägt, der kriegt eine zurück, Unrecht wird von mir knallhart beantwortet, auf eine Verleumdung mehr oder weniger kommt es am Ende nicht an. Auf einmal erscheint das, was uns so nahe liegen soll ganz fremd: behandele die Menschen so, wie du von ihnen behandelt werden möchtest. Das bedeutet konkret, dass ich das Unrecht, das mir angetan worden ist, nicht mit einem neuen Unrecht beantworte. Die Gemeinheit, die ich aushalten musste, die werde ich nicht mit einer Gemeinheit erwidern. Schließlich möchte ich nicht ungerecht und gemein behandelt werden.
Vielmehr suche ich nach einer Möglichkeit aus dieser Spirale herauszukommen. Ich soll mich nicht in den Sog von Gemeinheit, Lüge und Verleumdung hineinziehen lassen. Ich werde von dem Gott, der mir so nahekommt gebeten, aus diesem Kreislauf auszusteigen – und Unrecht zum Beispiel mit einer hoffentlich nicht enden wollenden Suche nach Wahrheit begegnen; und der Gemeinheit werde ich keine übertriebene und falsche Freundlichkeit entgegen setzen – sondern vielleicht einen Witz , der uns alle zum Lachen bringen könnte. Es kann natürlich sein, dass der Witz überhaupt nicht gut ankommt… dann war es wenigstens einen Versuch wert. Denn was wäre die Alternative? Die nicht überschaubare Kette von Schlag und Gegenschlag…?! Darum ist es so naheliegend, die anderen so zu behandeln, wie man von ihnen behandelt werden möchte – und nicht wie man von ihnen behandelt worden ist.

Ist das wirklich naheliegend?
Hoffentlich!


Pfarrer Eberhard Helling